„Sie sind wandelnde Tote“ – Israels Geiselfamilien verlieren den Glauben an die Regierung
„Es ist nichts mehr übrig von unseren Kindern – nur noch Knochen“, klagt die Mutter einer Geisel in Tel Aviv. Die israelische Regierung sei mit ihren Bedingungen weltfremd. Die Familien fordern endlich ein Ende des Albtraums.

Die Bühne am Begin-Gate in Tel Aviv ist klein. Aber der Schrei, der von dort ausgeht, ist ohrenbetäubend – und durchdringt ein ganzes Land. Zum 666. Tag in der Gewalt der Hamas versammelten sich heute Familien der verschleppten Israelis und ließen alle diplomatischen Hüllen fallen. Ihre Geduld ist aufgebraucht. Ihre Hoffnung schwindet. Und ihr Zorn richtet sich nun offen gegen die eigene Regierung.
Allen voran: Einav Tsangauker. Sie ist die Mutter des verschleppten Soldaten Matan Tsangauker. Ihre Worte waren keine politischen Forderungen. Es war ein verzweifelter, roher Schrei einer Mutter, deren Sohn noch lebt – aber nicht mehr wirklich. „Sie sind wandelnde Tote“, sagte sie über die Gefangenen. „Von unseren Kindern ist nichts mehr übrig als Knochen.“
Die Erzählung vom „realitätsfernen Israel“
In ihrer Ansprache enthüllte Einav, was der US-Sondergesandte Steve Witkoff ihnen gesagt habe: Israels Bedingungen für ein Geiselabkommen seien „nicht realistisch“. Eine Bombe. Denn Witkoff war von Premierminister Netanyahu höchstpersönlich nach Israel eingeladen worden – als Zeichen des guten Willens, als Beweis für amerikanische Unterstützung. Nun aber berichten die Familien, dass Witkoff hinter verschlossenen Türen ein ganz anderes Bild zeichnet: Dass Israels Haltung die Verhandlungen blockiert. Dass Jerusalem Bedingungen stelle, die nicht erfüllbar sind – und damit eine Lösung verzögert, ja unmöglich macht.
Einav machte klar: Wenn die Regierung nun weiter eskaliert, wenn die militärischen Operationen ausgeweitet werden, „dann ist das eine eindeutig illegale Handlung. Darüber weht eine schwarze Fahne.“ Gemeint ist: Diese Regierung verliert ihre moralische wie rechtliche Legitimität in den Augen der Familien.
Und sie sind nicht allein.
Eine Demonstration der Trauer – und der Revolte
Die zentrale Kundgebung auf dem Platz der Geiseln – Kikar haChatufim – begann um 20:03 Uhr mit einer bewegenden Szene. Alai und Ya’ala David, die Geschwister des verschleppten Soldaten Evyatar David, sprachen. Zuvor war ein erschütterndes Video ihres Bruders aus der Hamas-Gefangenschaft veröffentlicht worden. Es zeigte ihn schwach, ausgezehrt, kaum noch aufrecht stehend. Ein Mensch am Rande des physischen Zusammenbruchs – und doch am Leben. Noch.
Danach trat Ofir Braslavski ans Mikrofon. Auch sein Sohn, Rom, wurde jüngst in einem Propagandavideo des Islamischen Dschihad gezeigt – ebenfalls gezeichnet, gebrochen, erschöpft. Wie lange noch?
Auch der Überlebende Omer Vankert, selbst Geisel der Hamas für viele Monate, sprach. Seine Worte waren klar: „Sie halten unsere Menschen wie Tiere. Sie spielen mit ihrem Leben wie mit Spielfiguren.“ Dann kam Michel Iluz, Vater des ebenfalls verschleppten Guy Iluz, der in einem früheren Deal gezwungen wurde, dem „Freudenfest“ der Terroristen beizuwohnen – einem „Befreiungskonzert“ für Hamas-Mitglieder, das in bitterem Kontrast zu seinem eigenen Schicksal stand.
„Slogans statt Substanz“ – Die politische Fassade bröckelt
Eines wurde auf dieser Kundgebung deutlich: Die Familien haben das Vertrauen in die politische Führung verloren. Besonders in Premierminister Netanyahu. Immer wieder wurde kritisiert, dass seine sogenannten „Verhandlungserfolge“ nur leere Phrasen seien – „Slogans ohne Substanz“, wie es Einav nannte. Hinter den Kulissen gebe es keine Bewegung, keine Strategie, keinen Plan B.
Stattdessen: Militarismus, Verhärtung, ein Festhalten an Maximalforderungen. Doch das Leben der Geiseln verrinnt. Jeden Tag mehr. Jede weitere Bombe auf Gaza bringt neue Gefahr für die Verschleppten – ohne dass dafür reale Fortschritte sichtbar würden.
Ein Land im Ausnahmezustand – und im Zwiespalt
Israel ist in einem Zustand kollektiver Trauer, Ohnmacht und innerer Spaltung. Die einen fordern einen bedingungslosen Sieg über die Hamas – koste es, was es wolle. Die anderen, wie die Geiselfamilien, sagen: „Der Preis ist zu hoch. Unsere Kinder zahlen ihn mit ihrem Leben.“
Und mittendrin ein Premier, der in den Augen vieler nicht mehr führt, sondern verzögert, verwaltet, ausweicht. Steve Witkoff selbst, der in den USA als überzeugter Unterstützer Israels gilt, wird nun zitiert mit der Aussage, dass *„keine Seite gute Nachrichten“ habe – aber auch, dass die Hamas ihre Zusagen nicht einhalte. Das Vertrauen ist zerstört. Doch während Diplomaten analysieren, sterben Menschen.
„Schluss mit dem Albtraum – jetzt!“
Die Familien riefen heute zur Massenteilnahme auf: „Nie wieder! Stoppt diesen Albtraum. Jeder weitere Tag verschärft das Sterben. Die Gefahr, dass sie verschwinden, wächst. Wir brauchen jetzt ein umfassendes Abkommen. Und ein Ende der Kämpfe.“
Zum Abschluss sprach eine Frau, deren Stimme viele zum Weinen brachte: Amit Siman Tov Ve’Hava. Sie überlebte das Massaker von Nir Oz, verlor sechs Familienmitglieder – und steht trotzdem dort auf der Bühne, um für die Rückkehr der Geiseln zu kämpfen. Ihre Botschaft: Wer schweigt, macht sich mitschuldig.
Israel hat sich in diesen Tagen verändert. Nicht nur außenpolitisch, sondern tief im Inneren. Die Fragen sind nicht mehr nur strategisch. Sie sind menschlich, moralisch, existenziell.
Autor: Bernd Geiger
Artikel veröffentlicht am: Sonntag, 3. August 2025