„Sie leben seit anderthalb Jahren in der Hölle“ – Wie Israels Geiseln im Gazastreifen systematisch zerbrechen
Der Leiter der Gesundheitsabteilung für die Familien der Entführten spricht offen über Hunger, Misshandlung, seelischen Zusammenbruch – und das Schweigen der Regierung.

Prof. Hagai Levin wählt seine Worte mit Bedacht – doch was er in diesem Interview sagt, trifft wie ein Schlag in die Magengrube. Wer wissen will, was den israelischen Geiseln in Gaza geschieht, bekommt von Levin ein Bild, das kaum zu ertragen ist. Es geht um Menschen, die sich in einem Zustand befinden, der „Hölle“ nicht nur ähnelt, sondern exakt dem entspricht, was dieses Wort in sich trägt: körperliche Auszehrung, seelische Qualen, totale Ausweglosigkeit.
Levin ist Epidemiologe, Vorsitzender der israelischen Gesellschaft für öffentliche Gesundheit – doch seine Rolle in diesem Krieg ist eine andere. Er leitet die Gesundheitsabteilung des Hauptquartiers der Familien der Entführten, jener Zivilgesellschaftseinheit, die entstanden ist, weil der Staat zu langsam, zu blind, zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Seit dem 7. Oktober 2023 kämpft dieser Zusammenschluss für das Überleben der Geiseln – gegen das Vergessen, gegen politische Gleichgültigkeit, gegen die Gewalt des Terrors.
Levin sagt es klar: „Alle lebenden Entführten sind in Todesgefahr, und alle Verstorbenen sind in Gefahr zu verschwinden.“ Dieser Satz steht im Zentrum seiner Warnung. Die israelische Militäroperation „Gideons Streitwagen“ könne, so Levin, das Schicksal der Geiseln besiegeln – durch Luftangriffe, durch Verschlechterung der Haftbedingungen, durch psychischen Zusammenbruch, durch Exekutionen. Schon jetzt seien mindestens 41 Geiseln im Lauf der Kämpfe gestorben. Die meisten davon nicht in Explosionen, sondern langsam. Im Dunkeln. Im Stillen.
Die Details, die Levin auf Anfrage von Moshe Nussbaum – einem der erfahrensten israelischen Polizeireporter – schildert, lassen kaum Raum für Hoffnung. Ein Beispiel ist der Fall von Matan Zangauker, einem jungen Mann, über dessen Zustand es mittlerweile gesicherte medizinische Informationen gibt. Sie wurden von seiner Mutter zur Veröffentlichung freigegeben, um vielleicht Druck zu erzeugen – oder zumindest Öffentlichkeit. Zangauker leidet an einer genetischen Nervenerkrankung, deren Symptome sich unter den unmenschlichen Bedingungen verschlimmern: extreme Muskelschwäche, Zittern, neurologische Ausfälle. Ursache ist vermutlich die Kombination aus Unterernährung, Vitaminmangel, Flüssigkeitsentzug, kontaminiertem Wasser, Gewalt, Dauerstress. Levin spricht von einem „medizinisch-ethischen Dilemma“ – nämlich ob man Gesundheitsdaten einer Geisel ohne seine ausdrückliche Zustimmung veröffentlichen darf, um ihn vielleicht zu retten.
Doch Zangauker ist nur ein Beispiel von vielen. Immer wieder seien laut Levin Muster erkennbar: Nach israelischen Luftschlägen bekommen die Geiseln weniger Nahrung, sie werden gefesselt, erniedrigt, geschlagen. Der medizinische und psychologische Verfall beschleunigt sich. Die Täter – Hamas und andere bewaffnete Gruppen – reagieren offenbar auf Angriffe mit Rache an den Wehrlosesten. In mindestens einem dokumentierten Fall wurden sechs Geiseln aus nächster Nähe erschossen – in einer Tunnelanlage, vermutlich als Vergeltung.
Die Gesundheitsabteilung um Prof. Levin hat einen Bericht mit dem Titel „Leben in der Hölle – anderthalb Jahre in Gefangenschaft“ veröffentlicht. Darin werden neue Beweise präsentiert, darunter auch Aussagen von überlebenden Geiseln wie Idan Alexander, der vor Kurzem freikam. Alexander berichtet von Schlägen, Hunger, Schlafentzug, psychischer Folter. Manche Details wurden absichtlich nicht veröffentlicht – zu entwürdigend, zu gefährlich für noch lebende Geiseln. Doch Levin bestätigt, dass auch sexuelle Gewalt eine Rolle spielt. Überlebende berichten, was sie sahen oder hörten – an sich selbst oder an anderen. Die Dunkelziffer ist hoch. Es sei nicht die Zeit, dies öffentlich im Detail zu benennen, sagt Levin – „erst müssen alle zurückkehren, die Lebenden zur Rehabilitation, die Toten zur Beerdigung“.
Dabei richtet Levin seine schärfste Kritik nicht nur an die Hamas, sondern auch an die eigene Regierung. Gemeinsam mit Angehörigen habe er in der Knesset gefragt, wie die Armee sicherstellen wolle, dass die Geiseln nicht durch die eigene Offensive getötet werden. „Wir bekamen keine Antwort“, sagt er trocken. Die Aussage wiegt schwer. Während Premierminister Netanyahu die Militäroperation als alternativlos bezeichnet, steht der Vorwurf im Raum, dass das Leben der Entführten nicht oberste Priorität hat. Levin widerspricht jeder Form von „Selektion“, bei der nur Geiseln mit bestimmten Kriterien – wie jünger oder gesünder – für einen Austausch berücksichtigt werden sollen. Für ihn ist klar: „Keiner darf zurückgelassen werden.“
Besonders erschütternd sind Levins Schilderungen der Obduktionsberichte. Pathologische Befunde, sachlich und nüchtern formuliert, die Zeugnis ablegen von dem Grauen: Wunden durch Schüsse und Splitter, Verletzungen durch Gewalt, Spuren extremer Mangelernährung, deutliche Zeichen von Misshandlungen. Manche Todesursachen sind direkt auf die Gefangenschaft zurückzuführen, andere auf die Umstände der Befreiungsversuche. Die Vorstellung, dass diese Menschen, Israelinnen und Israelis, Zivilisten und Soldaten, 600 Tage lang systematisch zerbrochen wurden, ist kaum auszuhalten.
Und doch bleibt ein Hoffnungsschimmer. Levin berichtet, dass einige Geiseln von der öffentlichen Anteilnahme in Israel erfahren haben – auf geheimen Wegen, durch kleine Zeichen, vielleicht über Radiowellen oder Briefe. Und dass genau dies ihnen half, nicht aufzugeben. „Die Einbindung der Öffentlichkeit stärkt und hilft beim Durchhalten“, sagt er. Der Kampf um die Geiseln sei auch ein Kampf um die Seele Israels – und um das, was ein Staat seinen Bürgern schuldig ist: Schutz, Rückkehr, Würde.
Autor: Redaktion
Artikel veröffentlicht am: Samstag, 7. Juni 2025